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Ballard and the Pineal Eye

Essay zu gleichnamigen Masterarbeit 

Der britische Science-Fiction Autor James Graham Ballard war bestimmt kein Architekturkritiker oder Experte in Planungsbelangen, er hatte aber sehr wohl ein außergewöhnliches Feingefühl für seine Umwelt, seine Mitmenschen und sozialen Gefüge, die ihn umgaben. Ballards großes Talent bestand darin, Ereignisse und Veränderungen seiner Gegenwart aufzugreifen und weiterzudenken. In meiner Arbeit verwende ich das Prinzip der fatalen Strategien nach Jean Baudrillard, bei denen eine übermäßige Steigerung, eine Form von Kritik darstellt und so Ballards dystopische Szenarien, die von den extremen Konsequenzen der herrschenden Bedingungen in einer kapitalistischen Gesellschaft erzählen, nütze, um damit Kritik an der Moderne zu üben. Denn wie sich zeigte plädierten James Graham Ballards Werk auf seine ganz eigenen Weise für eine neue Architektur und Städteplanung.

 

In seiner Arbeit beschäftigte sich Ballard mit dem Mikrokosmos, der die Fragilität der Gesellschaft, beinhaltet. Seine Beschäftigung mit sozialen Rückschritten behandelt dessen Auswirkungen auf den Verlust des Halts und des Rückgrades der Zivilisation. (vgl. Elborough, 2014)

 

Ausgangspunkt meiner Theorie stellt die Concrete and Steel Trilogie des britischen Science Fiction Autors James Graham Ballard dar, deren erster Teil Crash, 1973 veröffentlicht, den Fokus auf von Autos diktierten Städtebau legt.

In Crash steht der Autounfall für Sex und Leidenschaft. Wunden und Missbildungen, die daraus hervorgehen, stellen den Schlüssel einer neuen perversen Technologie dar. Die Stadt ist nur noch Theater der Technologien. Der Hauptprotagonist James Ballard schließt sich einer Gruppe an, die vorsätzlich Unfälle provoziert. Das Individuum wird belanglos, nur die Beziehung eines anonymen Wesens zu seinem Auto ist wichtig. Crash ist die Verbindung von Vernunft und Alptraum. Der Roman spiegelt eine Welt wider, die von Pseudoereignissen, Pornographie und Wissenschaft beherrscht wird. Crash ist als Metapher für eine extreme Situation zu lesen – ein Katastrophenroman, aber nicht im Sinne eines vom Autor erdachten Desasters, sondern mit einer Katastrophe, die von der Industrialisierung und dem Kapitalismus in die Gesellschaft eingeführt wurde und Jahr für Jahr tausende von Leben kostet. (vgl. Ballard, 1996)

 

Wie alle drei Teile der Trilogie, spielt auch die Handlung von Crash in Londons Vororten, allen voran Shepperton, in dem auch der Autor selbst lebte. Die Geschichten wurde von realen Ereignissen und städtebaulichen Konditionen inspiriert. Um die örtlichen Gegebenheiten und lokalen Vernetzungen besser verstehen zu können habe ich zu jedem Teil der Trilogie Karten angefertigt, die die Romane grafisch aufarbeiten sollen. Und obwohl nur sehr wenige Orte direkt vom Autor genannt werden, entstanden dabei äußerst detailreiche Karten.

 

Die Randgebiete der Stadt werden in Crash zu Ballungszentren und für bestimmte Szenen und Handlungen bediente sich Ballard immer speziellen Schemata. Die Schilderungen von Lebens,- und Wohnorten stehen in extremen Kontrast zu jenen der Unfälle, die wesentlich genauer geschildert werden. Die gebaute Umgebung stellt die harte und unveränderbare Realität dar, wohingegen die Orte der Autounfälle und die Straßen mehr Freiheit genießen dürfen. In Crash spiegeln die Wohnorte die Charakteristika der Menschen wieder, sie werden von ihrer Umgebung geformt. Aber auch das Auto spielt eine enorme Rolle für die Protagonisten Protagonistinnen. Die Schauplätze der Unfälle, die Straßen, nehmen eine andere Wertigkeit ein, wie architektonisch greifbare und unbewegliche Orte. Die Gegenden in denen es zu traumatischen Kollisionen, Tod und Elend, ausgelöst durch Technologie kommt, wirken in ihrer Beschreibung wie melancholische Stillleben.

 

Zur Zeit der Entstehung von Crash war der Bau des Westways in der Realität ein großes Thema. Die Schnellstraße, damals die größte in Europa, verband das Ballungszentrum von London mit den umliegenden Vororten. Dieser städtebauliche Eingriff hatte weitreichende Folgen für die betroffen Orte. (vgl. Harnack, 2012)

J.G.Ballard beschreibt mit Crash die psychologischen Folgen die durch den Verkehr und die damit verbundenen Einschnitte in die Stadt, entstehen können.

 

Concrete Island (1974), zweiter Teil der Trilogie, beginnt mit dem Autounfall des Architekten Robert Maitland, der in der Nähe des Londoner Zentrums mit seinem Jaguar einen Abhang hinabstürzt und sich auf einer „verlassenen Insel“ wiederfindet, die von Böschungen und Schnellstraßen von der Außenwelt abgeschottet wird. Der Unfall passierte aufgrund eines einzigen, kurzen, unachtsamen Momentes, in dem er sich der Maschine hingab. Concrete Island beschäftigt sich mit der Frage, was passieren würde, wenn der allgemein weit verbreitete Traum auf einer einsamen Insel zu stranden, wahr wird und was passiert, wenn es sich bei dieser Insel um kein irdisches Paradies im klassischen Sinn handelt. (vgl. Ballard, 1994)

 

Concrete Island kann als eine Art räumliche Überleitung der beiden anderen Teile der Trilogie gesehen werden. Die Insel befindet sich mitten in der Stadt und ist dennoch komplett von der Welt architektonisch abgeschnitten.

Diese Insel, auf der Maitland strandet, lässt sich relativ leicht zurückverfolgen. Verfolgt man seine Route, die auch die selbe ist, wie Ballard sie in Crash fuhr und zoomt man in jene hinein, stößt man auf einem signifikanten Knotenpunkt des Westways, der alle beschriebenen Kriterien erfüllt.

 

Der Handlungsort in Concrete Island ist ein Nicht-Ort im Sinne von Marc Augé. Der moderne Städtebau erzeugte unzählige solcher Orte, die als Nebenprodukte der Stadt gesehen werden können. Sie haben keine besondere Nutzung und liegen in den meisten Fällen brach. Der Nicht-Ort ist in der Lage seine Besucher und Besucherinnen von gewohnten Bestimmungen zu lösen. Der Raum dieses Ortes schafft aber auch keine besondere Identität oder Relation, er schafft nur Einsamkeit und Ähnlichkeit. (vgl. Augé, 1994)

 

Der dritte Teil der Trilogie High-Rise (1975) erzählt die Geschichte eines Apartmentblocks mit 40 Stockwerken, Supermärkten, Swimmingpools, Fitnessstudios und Vielem mehr. 2000 Bewohner und Bewohnerinnen, die ausnahmslos alle der oberen Mittelschicht angehören, leben in dieser vertikalen Stadt, einer davon ist Dr. Robert Laing, der sich im 25. Stockwerk ein modernes Studioapartment mietet, um hier Ruhe und Anonymität zu finden. Stromausfälle, verstopfte Müllschächte und Lebensmittelengpässe führen unter anderem zu Unruhen und Klassenkämpfen, die als Resultat einer Architektur gesehen werden können, die nicht für den Menschen entworfen wurde, sondern für dessen Abwesenheit. Ein Gefühl von Anarchie und Revolution macht sich bemerkbar, aus dem ein neuer sozialer Typ entsteht – eine coole emotionslose Person, die durch den psychologischen Druck des Lebens im High-Rise aufblüht und ein Minimum an Privatsphäre benötigt. In vielerlei Hinsicht, scheint es, als ob das Gebäude, mit seinen modernen Technologien, die Psychosen seiner Bewohnerinnen und Bewohner freisetzt. Der Block wird zu einer autarken Zone, mit eigenen Gesetzen und Regeln. (vgl. Ballard, 2014)

 

High-Rise ist eine Abbildung des Lebens im urbanen Umfeld des 20. Jahrhunderts. Das Gebäude im Roman ist stark an den Bauten von Erno Goldfinger in London angelehnt. Daher diente auch der Trellick Tower als Vorlage für das Gebäude in meiner Darstellung, für welche ich Raumhöhen und die generelle Erscheinung adaptierte.

Doch nicht nur die äußere Erscheinung oder die ähnlichen Charakterzüge der Architekten weisen Parallelen auf, sondern auch die Geschehnisse in High-Rise, auch wenn sie überspitzt sein mögen, sind an die so genannte Christmas Crisis im Trellick Tower angelehnt. Nur wenige Monate nach Einzug der Mieter, 1972, schlichen sich Randalierer am Heiligen Abend in das Gebäude und öffneten die Löschwasserleitungen. Die dadurch entstandenen Schäden zwang die Bewohner und Bewohnerinnen mehrere Tage ohne Licht, Wasser, Heizung und Aufzüge auszukommen. Dieser Vorfall bescherte dem Trellick Tower unter anderem, gemeinsam mit Robin Hood Gardens von den Smithsons, den Ruf, das schlimmste Gebäude der Nachkriegszeit zu sein. (vgl. Harnack, 2012)

 

Allen soeben geschilderten Szenarien, liegt das von dem französischen Philosophen Georges Bataille (1897-1962) definierte Pineal Eye als Ausgangspunkt zu Grunde. All diese Punkte sind Produkte der modernen Architektur und Urbanistik. Das Pineal Eye ist eine Referenz zu einem Blind Spot im westlichen Rationalismus und ein Organ für Exzess und Delirium. (vgl. Art & Popular Culture, 2013)

 

Bataille gilt als Vorläufer der 68er Bewegung, die gegen das strukturalistische Establishment revoltierte und eine Auflockerung der symbolischen Autorität der Architektur des Poststrukturalismus verlangte.

Die gebaute Umgebung übt, laut Bataille, einen starken Einfluss auf die Gesellschaft und das Individuum aus. So können Monumente zum Beispiel ein gutes Verhalten der Gesellschaft fördern, aber auch das Gegenteil bewirken.

Laut ihm vermag es Architektur Zwänge zu generieren, da sie im Grunde nur eine Form der Religionspräsentation ist. - Architektur ist politische Macht, die sich manifestiert. Architektur lässt Repräsentation und Machtdemonstration räumlich werden. Sie beginnt damit, dass sie sagt, was Gesellschaft ist. Architektur und Gesellschaft sind so dicht ineinander verwoben, dass die menschliche Ordnung von Anfang an von der architektonischen abhängt und auch umgekehrt. (vgl. Hollier, 1992)

 

James Graham Ballard lässt seine dystopischen Zukunftsszenarien in seiner Gegenwart passieren, inspiriert von seiner realen Umgebung und den Konflikten und Problemzonen, die ihn umgaben. Der Mensch steht, auch wenn oberflächlich betrachtet der Hauptprotagonist ist, nicht im Mittelpunkt. Er scheint mehr das Setting für die weitaus bedeutendere Architektur und Stadt zu sein, die die eigentlichen zentralen Figuren im Werk von Ballard sind. Der Mensch ist seiner Umgebung untergeordnet, wird von ihr, bewusst oder unbewusst, gelenkt und kontrolliert. Ballard beschäftigte sich also mit den Problemen die entstehen, wenn der Mensch und der menschliche Maßstab von Architektur und Städtebau missachtet werden.

Somit greif er einen Diskurs in der Architektur auf, der darum bemüht war den Menschen und die Gesellschaft mehr zu integrieren.

 

Ob nun am Beispiel eines Gebäudes, wie in High-Rise, einem Städtebau, der von Verkehr diktiert wird wie in Crash, oder den Nicht-Orten, Nebeneffekte des modernen Städtebaus, wie in Concrete Island, Ballard lässt mit seinem Werk nicht davon ab, den Modernismus an den Pranger zu stellen und in seinen dystopischen Szenarien die Folgen für die Gesellschaft überspitzt aufzuzeigen.

 

Aber welche Art von Architektur kritisierte Ballard mit seinem literarischen Werk nun genau?

 

Der wichtigste Impulsgeber der Moderne war die CIAM. In den CIAM-Kongressen wurden Arbeitsmethoden und Vorschläge für Architektur und Städtebau in Europa ausgearbeitet. Die von der CIAM durchgeführten Untersuchungen wurden so gut wie überall beachtet und umgesetzt. Im Gründungsmanifest von 1928 formulierten sie Themen, die in den folgenden Jahrzehnten das Bild von der modernen Architektur prägen sollten. Diese Themen waren unter anderem: Ablehnung der Geschichte, Betonung der sozialen Aufgaben, Rationalisierung und Standardisierung der Produktion, funktionale Raumaufteilung, Ablehnung ästhetischer Grundsätze, Prävalenz von Technik und Hygiene usw. Der Punkt der funktionalen Raumaufteilung sollte nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuerlichen Höhepunkt erreichen. In der Charta von Athen hielt die CIAM eine strikte Trennung der Funktionen in Arbeit, Wohnen, Erholung und Verkehr, fest.

Die Architektur der Moderne missinterpretierte vor allem aber den Menschen und seine Bedürfnisse als Stadtbewohner und Stadtbewohnerin, wie nicht nur Ballard uns aufzeigte, sondern auch Jane Jacobs. Der urbane Mensch sucht nämlich nicht Leere, Ordnung und Ruhe, wie es von der CIAM vorausgesetzt wurde.

 

Die Moderne stand schließlich im Verdacht, eine Welt anzustreben, die das Individuum und seine Intimität verdinglicht und ausspielt und somit souveräne Existenzen verdrängt.

Nachdem der Modernismus der CIAM mehrere Jahrzehnte andauerte, begannen in den 50er und 60er Jahren sich Gegenströmungen zu formieren. Sowohl politische, künstlerische, als auch architektonische. (vgl. Homann, 2010)

 

Die neuen Generationen, darunter Team X, die Situationisten Internationale und Provo, lehnten sich an die 68er Bewegungen an und bemühten sich Missstände in der Gesellschaft aufzuzeigen und Randgruppen zu integrieren.

 

Die Situationisten Internationale, wollten den Alltag revolutionieren und den Stadtraum in einen großen Erfahrungsraum umwandeln. Der größte Verdienst dabei war, dass sie sowohl die handlungsorientierte, als auch die psychologische Ebene des Raums für den architektonischen Diskurs aufbereiteten. (vgl. Dell, 2011)

 

In der Raumordnung der Stadt zeigt sich das Mentale der Menschen, das durch das Spektakel angegriffen wird und die wohl bedeutendste Entdeckung der Situationisten ist. Die Situationisten erkannten die Stadt als „Laboratorien dieser erdrückenden Gesellschaft.“ (Dell, 2011, p. 61) Sie kritisierten an der städtebaulichen Praxis, dass sie eine einheitliche Gesellschaftsklasse konstruiert, mit einem gemeinschaftlichen Lebensstil. Diese Praxis kommt hauptsächlich durch die enorme Zunahme an Autos und deren wachsende Bedeutung für die Stadt. „Dagegen wollten die Situationisten einen phänomenologischen Ansatz des nicht-intentionalen Umherschweifens, des Dérives, setzen.“ (Dell, 2011, p. 61)

Im Grunde ist das ziellose umherfahren in der Stadt in Crash, die Rasereien entlang des Westways, eine Form dieses Dérive der Situationisten, es handelt sich dabei lediglich um eine adaptiere Form davon, die im Auto stattfindet.

 

Eng mit den Situationisten verbunden war PROVO in Amsterdam. Hierbei handelt es sich um eine äußerst eigenartige Bewegung, mit sehr jungen Akteuren und Akteurinnen, die ihre Ausdrucksform in Happenings, fanden. In gewisser Hinsicht, können die vorsätzlich provozierten und auch die theatralisch inszenierten Autounfälle in Crash als solche Happenings gesehen werden.

 

Das Team X war eine Splittergruppe der CIAM und strebten eine Erneuerung dieser an, führte aber indes zu deren Auflösung.

 

Diese eben beschriebenen Strömungen wollten den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Umwelt stellen und brachten einige Architekten und Architektinnen hervor, die diese Gedanken in ihre Arbeit zwar versuchten zu integrieren, dies aber letztendlich nicht schafften umzusetzen, wie sich an verschiedenen Beispielen zeigen lässt. 

 

So zum Beispiel das Architektenpaar, Alison und Peter Smithson, Gründungsmitglieder des Team X, die zur selben Zeit versuchten die Architektur der Moderne weiter zu entwickeln.

 

Mit ihrem Wettbewerbsbeitrag Hauptstadt Berlin 1957, wollten die Smithsons gemeinsam mit Peter Sigmond den Traum, für den die Bevölkerung damals kämpfte, bauen. Das Zusammenbringen von Menschen in der Öffentlichkeit stand dabei im Vordergrund. In Hauptstadt Berlin zeigten sie ihre Vorstellung einer idealen Stadt mit einem extrem hohen Maß an Beziehungspotentialen.

Dem Wettbewerbsentwurf lag der Gedanke zu Grunde, dass sowohl der motorisierte, als auch der menschliche Verkehr die selbe Daseinsberechtigung und die selben Bedürfnisse an Freiheit, Fortbewegung und Zugang besitzen. Es gibt in diesem Entwurf zwei verknüpfte Systeme der Bewegung und zwei ineinander verwobenen Geometrien: Das Obergeschoss für die Fußgänger und darunter die Ebene für die Autos. Beide Systeme sind durch Rolltreppen miteinander verbunden. (vgl. Smithson, 2005)

Mit Crash übte Ballard eine indirekte aber bemerkenswerte Kritik am Projekt Hauptstadt Berlin. Diese Projekt wäre wohl die Traumutopie für die Protagonisten und Protagonistinnen aus Crash. Für die Autos ist hier eine komplett eigene Ebene geplant worden, mit der die Architekten zwar die Auswirkungen des motorisierten Verkehrs auf die Stadt verringern wollten, damit aber eigentlich das Gegenteil bewirkt hätten. Das Prinzip der zwei Ebenen ist das Sinnbild für die Verdrängung des Menschen durch den Verkehr. Er wird nicht nur von der Straße, sonder sogar vom Grund der Stadt auf eine eigene Ebene verbannt. Diese eigens eingezogenen Ebenen wird dafür auch noch völlig von Orten des Konsums beherrscht. Mit dem Wettbewerbsbeitrag für Berlin erschufen die Smithsons somit, absichtlich oder unabsichtlich sei dahin gestellt, einen Hybriden aus Shopping Centre und Disneyland, die zwei ultimativen architektonischen Verkörperungen des Kapitalismus wie Jean Baudrillard sie definierte.

 

Der brutalistische Bau Robin Hood Gardens der Smithsons steht in der selben Tradition wie die Bauten von Erno Goldfinger jener Zeit und somit auch in jener von High-Rise. Gegenwärtig gilt die Megastruktur der Smithsons als Sinnbild dieser Stilepoche in der Architektur schlechthin, auch wenn es seit kurzem nun nur noch zur Architekturgeschichte zählt, da es 2017, trotz zahlreicher Einwände und Petitionen, abgerissen wurde. Die zwei Häuserblocks, die sich am Rand des Baugrunds befanden, nahmen die Linie der Straße auf und bildeten auf diese Weise einen ruhigen und grünen Innenhof.

Besonders diese Lage weist Parallelen zu der Concrete and Steel Trilogie auf. In High-Rise stehen die fünf Hochhäuser solitär auf einem Baugrund in London und wurden, ähnlich wie Robin Hood Gardens so positioniert, dass es den Anschein erweckt, sie befänden sich an einem Ort außerhalb der Stadt. Die stark befahrenen Straßen rund um das Gebäude und die grüne Insel in der Mitte, erwecken Assoziationen mit der Insel auf der Maitland in Concrete Island gefangen war.

 

Die Intentionen der Smithsons bei der Realisierung von Robin Hood Gardens war sicherlich keine schlechte, dennoch scheiterten sie erneut daran ihre eigenen Theorien vollends umzusetzen und blieben in der klassischen Moderne hängen. Ihr Entwurf für den sozialen Wohnbau in London prägte das negative Bild von großen Strukturen und dem Brutalismus nachhaltig. Schon in den 1970er Jahren herrschte ein weit verbreitetes schlechtes Image über solche und ähnliche Architekturen und Robin Hood Gardens scheint die Vorurteile der Bevölkerung bestätigt zu haben. Für High-Rise griff J.G. Ballard diese Vorurteile lediglich auf und verwandelte sie in eine äußerst dystopische Erzählung um das allgemein verbreitete Misstrauen gegenüber solcher Bauwerke auszudrücken.

 

Ballard und Bataille lehrten uns, dass Architektur sowohl mit Konstanten, als auch mit Veränderungen der menschlichen Realität klarkommen und auf die Komplexität der modernen Gesellschaft reagieren können muss. Der Künstler und Architekt Constant, versuchte diesen Gedanken in seinem Projekt New Babylon zu realisieren. Eine Architektur für den Homo Ludens, den spielenden Menschen. Die utopische Stadt reagiert permanent auf Veränderungen und auf Transformationen, eine flexible Lebensumgebung, bei der der Mensch mit seinen Aktionen seine Umwelt ständig verändern und Reaktionen hervorrufen kann. Die Umkehrung oder auch Lösung davon, was Ballard eben im weitesten Sinne der Architektur der Moderne vorwarf.

New Babylon ist die letzte umfassende Formulierung einer Idee des neuen Mannes, bzw. eines sozialen Raums, der das Aufkommen eines anderen Mannes, einer neuen Art der lebenden Gesellschaft ermöglicht. Die Stadt als wichtigste menschliche Erfahrung soll durch New Babylon regeneriert werden. (vgl. Mari, 1998)

 

Constant verfolgte die Intention, die Stadt als die Größte Erfindung des Menschen erneuern zu wollen, er war darum bemüht attraktive Architekturen und Städte für das Individuum zu schaffen.

 

Eine Erneuerung, die gut 50 Jahre später vielleicht wieder an der Zeit wäre. Es ist längst wieder notwendig, eine Diagnose der Zeit und eine Aktivierung der sozialen Kräfte, die auf dieser Diagnose politische  Konsequenzen zu ziehen bereit – und dazu auch in der Lage ist. (vgl. Homann, 2010) Denn die eine und einzig universelle Gesellschaft gibt es nicht. Sie besteht auch aus unzähligen unterschiedlichen Individuen und Gruppierungen, die oftmals aber nicht in die Repräsentation einer Stadt oder eines bestimmten Lebensraums Eingang finden.

 

Doch was müssen wir in der Gegenwart beachten, um nicht die selben Fehler wie die Moderne zu begehen?

 

Bereits Jane Jacobs lehrte uns die Bedeutung von Diversität und auch Ballard führte uns vor Augen, wie wichtig es ist eine durchmischte und gleichberechtigte Gesellschaft mit Architektur und Städtebau zu fördern, ansonsten drohen die selben Konsequenzen wie den Bewohnerinnen und Bewohnern in High-Rise. Denn Gesellschaft ist nun mal keine homogene Masse.

 

Heute widmet sich Paul B. Preciado dieser Thematik und dehnt die Theorie von Georges Bataille und J.G.Ballard aus. Denn schon lange übt nicht nur Architektur Zwang und Kontrolle auf die Menschheit aus, sondern auch die Pharma,- und Sexindustrie sind an diesem Umstand maßgeblich beteiligt und oft auch in direkter Wechselbeziehung zueinander. Hierfür beschreibt der Queer,- und Genderphilosoph die ersten großen Studien und Testversuche zur Antibabypille, die an Frauen einer südamerikanischen Stadt getestet wurde. Bei diesem Test, für den eigens ein Slum der Stadt umgebaut wurde, funktioniert das häusliche Umfeld der Frau, das ihr vor allem auch von der Gesellschaft so zugeteilt wurde, als eines der wichtigsten Kontrollinstrumente. Man betrieb Wohnungsmodernisierung um ein mikropharmazeutisches Laboratorium im häuslichen Umfeld zu installieren. Es üben also Architektur, Medikament und Sexindustrie in diesem Beispiel gemeinsam eine enorme Überwachungs,- und Kontrollfunktion aus. Unbewusst folgen viele Städte diesem Prinzip von Überwachen und Strafen,auch heute noch. Dies wird vor allem von Apparaten der Selbstüberwachung (wie es die Antibabypille zum Beispiel ist) begünstigt. (vgl. Preciado, 2016)

 

Preciado zeigt uns das Gesellschaft mehr ist und sein muss, als ein Vielfaches des exemplarischen Mustermannes. Sie ist weiblich queer und noch vieles mehr. Und dies sollte auch in der Architektur berücksichtigt werden. Der klassische Humanismus muss mit der zeitgenössischen Architektur des 21. Jahrhunderts überwunden werden können.

 

Eine der größten Schwachstellen, die dieser klassische Humanismus in der Architektur aufwies, vor allem bei in der Moderne, war die Annahme, dass alle Menschen gut sind. Ein Irrtum wie uns Ballard mit seinem Werk aufzeigt. Nicht jeder Mensch ist gleich und vor allem, nicht jeder Mensch ist gut. Auch wenn ein Individuum vielleicht positive und gute Intentionen mit seinem Handeln verfolgt, wirken sich jene nicht automatisch positiv auf das Kollektiv aus.

 

Ballards Werk in Bezug auf Eschatologische Jouissance, kann im Vergleich dazu auch als Manifest des Anti-Humanismus verstanden werden. Er beschreibt das Vergnügen am Untergang der uns bekannten Weltordnung und kann daher als ablehnende Haltung gegenüber dem Humanismus gesehen werden. Da dieser Anti-Humanismus, wie Ballard ihn inszeniert wohl kaum eine attraktive Alternative zum Humanismus darstellt, möchte ich nun abschließend den Gedanken des Posthumanismus zur Sprache bringen. (vgl. Teeuwen, 2009)

 

Die zivile Verantwortung der Akademikerinnen und Akademiker heute, somit auch der Architektinnen und Architekten, ist einer der ausschlaggebenden Gründe, warum sich Rosi Braidotti mit dem Posthumanismus auseinandersetzt. Eine Denkerin/ein Denker der Geisteswissenschaften, eine Figur die als intellektuell gilt, weiß nicht mehr welche Rolle sie in der zeitgenössischen sozialen Öffentlichkeit hat. Zählt man die Architektin und den Architekten zu diesen Denkern hinzu, hat diese Behauptung fatale Folgen, denn wie soll jemand für die Gesellschaft bauen, wenn sie oder er die eigenen Rolle und Position in jener nicht mehr definieren kann?

Das Ideal wäre die Produktion von sozial relevantem Wissen und auch Raum, der mit den grundsätzlichen Bedürfnissen der sozialen Gerechtigkeit, dem Respekt vor dem menschlichen Anstand und der Diversität, der Ablehnung von falschem Universalismus, die Versicherung des Positiven der Unterschiede, die Offenheit anderen gegenüber und der Geselligkeit vereinbar sind. (vgl. Braidotti, 2013)

 

Die Städte des 21. Jahrhunderts, sind nicht nur explodierende urbane Orte. Sie sind auch, im besten Fall, technologisch vermittelte, smarte urbane Oberflächen. In den Städten entsteht heute ein neues Netzwerk aus den alten Komponenten Urbanität, Sozialem, Ökonomie, Politik und zivile Verbindungen. Wegen ihrem hohen Anteil an technologischen Interventionen, die in ein zeitgenössisches Netzwerk eingebunden sind, kann dieser neue urbane Ort als post-anthropozentrisch und über dem vitruvianischen Rahmen der Humanisten gesehen werden. Die Städte von morgen werden lebende Zentren des Lernens, der Informationsvermittlung und den geteilten kognitiven Praktiken sein, basierend auf intensiven sozialen Netzwerken.

Die Kombination von technischen Fähigkeiten und gesellschaftlicher Verantwortung, die Sorgen um eine soziale und umwelttechnische Nachhaltigkeit und eine anspruchsvolle und kritische Beziehung zu Konsum, sind die Hauptziele des zeitgenössischen Multiversums. (vgl. Braidotti, 2013)

 

Am Schluss bleibt hier nur noch die Frage offen, ob wir in der Lage sind, mit unseren Posthuman Selbst aufzuholen, oder sollen wir uns weiterhin in einem theoretischen und eingebildeten Jet-Leg Zustand in Bezug zu unserer lebenden Umwelt aufhalten? (vgl. Braidotti, 2013)

 

Wir Architektinnen und Architekten müssen uns dem Einfluss unserer Arbeit auf die Gesellschaft bewusst sein und darauf achten, die richtige Richtung für die Gesellschaft, wie Braidotti und Preciado sie uns zu vermitteln versuchen, nicht aus dem Blickfeld zu verlieren.

Und genau deshalb kann von einer immer noch währenden Bedeutung und Gültigkeit in James Graham Ballards dystopischer Literatur gesprochen werden, die verschiedensten Probleme der Architektur und Urbanistik, die wir im heutigen Kontext, nach wie vor noch nicht vollkommen überwinden konnten, aufzeigt.

 

 

 

 

Quellen:

 

Art & Popular Culture 2013

Art & Popular Culture (2013) The Pineal Eye. Availabe at: http://www.artandpopularculture.com/The_Pineal_ Eye (Accessed: 19. June 2017)

Augé 1994

Augé, Marc (1994) Orte und Nicht-Orte: Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. 2. Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.

Ballard 1994

Ballard, J.G (1994) Concrete Island. London: Vintage.

Ballard 1996

Ballard, J.G (1996) Crash. München: Goldmann Verlag .

Ballard 2014

Ballard, J.G. (2014) High-Rise. London: Fourth Estate.

Baudrillard 1994

Baudrillard, Jean (1994) Simulacra and Simulation. USA: The University of Michigan Press.

Braidotti 2013

Braidotti, Rosi (2013) The Posthuman. Cambridge: Polity.

Elborough 2014

Elborough, Travis (2014) `An Investigative Spirit´. High-Rise. Interview by Travis Elvorough, 2014.

Harnack 2012

Harnack, Maren (2012) Die Rückkehr der Wohnmaschinen: Sozialer Wohnbau und Gentrifizierung in London. Bielefeld: transcript Verlag.

Hollier 1992

Hollier, Denis (1992) Against Architecture. Massachusetts: MIT Press.

Homann 2010

Homann, Michael (2010) Global-Specific. Wien: Löcker.

Jacobs 2000

Jacobs, Jane (2000) The Death and Life of Great American Cities. London: Pimlico.

Mari 1998

Mari, Bartomeu (1998) Constant´s New Babylon: The Hyper-Architecture of Desire. Rotterdam: 010 Publishers.

Preciado 2016

Preciado, Paul B. (2016) Testo Junkie: Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie. Berlin: b_books.

Smithson 2005

Smithson, Alison und Peter (2005) The Charged Void: Urbanism. USA: The Monacelli Press.

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